K(l)eine Weihnachtsgeschichte

Von Albert Lachnit: Ich fahre mit meinem Rad durch den Kraichgau. In dieser Jahreszeit ist es schon früh dunkel, einsam und kalt. Ich fahre für mein Leben gerne Rad. Aber manchmal packt mich die Angst, dass ich mich verfahre oder verunglücke, irgendwo liege und mich keiner findet.
Da klingelt es, ein Hase auf einem Rad überholt mich hektisch und ruft: "Du liegst voll im Trend, die ganze Welt ist von Angst infiziert, mit steigender Tendenz!" Der Igel, der auf dem Gepäckträger sitzt, dreht sich zu mir um und schreit: "Der stirbt noch vor Angst, der Angsthase."
Der dunkle Wald lichtet sich und ich fahre durch einen alten Ort. Vor einem Ladenlokal stehen Menschen. Sie diskutieren heftig. Ich halte neugierig an. "Ich habe Angst, dass meine Zukunft verbaut ist, weil die Schule ausfällt." wirft ein Junge ein. "Noch mehr Angst macht mir der Klimawandel.", sagt die kleine Greta, "Das betrifft alle Menschen!" "Wem sagst du das!" weint der Eisbär auf seiner schmelzenden Eisscholle. "Ich hab' Angst, dass ich bald zusammenbreche!" ruft eine Krankenschwester im Vorbeigehen und eilt zum Dienst. "Ich habe Angst um meine Existenz, ihr kauft ja nichts mehr bei mir." ergänzt leise der Inhaber des Ladens und schließt. Ein weißer Lieferwagen fährt vorbei.
Als ich den Ort verlasse, versperrt mir eine meckernde Schafherde den Weg: "Es gibt keine Angst!" mähen sie, "Alles nur eine kleine emotionale Verstimmung!" Der Hirt zuckt die Schultern. Ein kleines schwarzes Schaf entgegnet: "Aber Mama, in der Schule haben sie gesagt, man kann sich gegen Angst impfen lassen!" "Alles Fake News, Kleines, nur wenn du dich impfen lässt, stirbst du. Wer stirbt denn vor Angst? Die gibt es doch gar nicht." antwortet das Mutterschaf.
Die Schafherde zieht weiter. Es wird wieder einsam. Eine verfallene Scheune taucht im Licht des Scheinwerfers auf. An den Brettern hängt ein altes Plakat: "Angst essen Seele auf." Ein Film von …
Aufgescheucht vom Licht, kommt ein Mann aus der Hütte, hinter ihm eine Frau mit einem Kleinkind im Arm. Flüchtlinge denke ich. Haben sie sich von der polnischen Grenze hierher durchgeschlagen? Vielleicht aus Syrien? "Habt ihr denn keine Angst, dass sich das Kind den Tod holt, bei der Kälte?" frage ich, aber der Mann versteht mich nicht. Das Kind lächelt.
Die Lichter der nächsten Ortschaft tauchen auf. In der Kirche würde ich gerne eine Kerze anzünden, gegen all die Angst und all das Dunkel. Als ich absteige, sehe ich, dass ein adretter älterer Herr an den verschlossenen Türen rüttelt und schimpft: "Ihr habt die Seelsorge durch Hygienevorschriften ersetzt." Jetzt erkenne ich ihn, es ist Georg Gänswein. Ein besorgter Priester eilt herbei und will ihn beruhigen: "Aber Exzellenz, wir haben Angst, dass sich Gottesdienstbesucher infizieren und sterben, es ist eine vulnerable Gruppe!" Die Figur des Heiligen Bonifatius, Apostel der Deutschen, zittert vor Erregung und giftet von der Fassade herab: "Habt ihr es denn immer noch nicht kapiert: Nach dem Tod kommt das ewige Leben!"
Zwei Männer beobachten die Szene. "Mit der Angst kann ich wunderbar Politik machen, da bin ich ganz radikal." meint der eine und grinst. Der andere antwortet: "Auch ich habe nichts gegen Angst, denn ich habe was gegen sie." und reicht seinem Gesprächspartner eine Schachtel Antidepressiva. "Ich bin Pharmazeut." ergänzt er und lächelt versonnen über sein Wortspiel.
Drei Kinder kommen vorbei, auf ihren Köpfen tragen sie Kronen. Sie sind traurig: "Schade, dass die Sternsinger dieses Jahr schon wieder ausfallen." "Wenn alle Angst vor uns haben!" "Und die Kinder, für die wir sonst sammeln?"
Bei der Kirche steht ein kleines Haus. Durch das Fenster sehe ich einen Weihnachtsbaum leuchten. Das Fenster öffnet sich, eine alte Frau schaut heraus und ruft uns mit gebrechlicher Stimme zu: "Heute ist Weihnachten!" Zwei Heranwachsende lachen: "Die spinnt, die Alte! Bei der ist jeden Tag Weihnachten."
Ich fasse mir ein Herz und klopfe an die Tür. "Bist du der Weihnachtsmann?" fragt die alte Frau neugierig durch den Türspalt. Ich lächle verlegen. "Komm rein!" sagt sie und öffnet die Tür, "Ich warte jeden Tag auf dich." Die Kerzen am Weihnachtsbaum tauchen den Raum in warmes Licht. "Schön, gell?" flüstert sie und lächelt versonnen, in Gedanken weit weg auf einer Reise in die Tiefen ihrer Kindheit. An der Spitze des Baumes fällt mir ein Engel aus Flitter auf. Aus einem kleinen Lautsprecher haucht er: "Frieden … Frieden … Frieden". In seinen Händen hält er ein Schriftband. Ich entziffere die verblichenen Buchstaben: "Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude!" /zg.

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Die Redaktion aus Ladenburg

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